Einmaleins im Luftschutzbunker

Eine persönliche Erinnerung an eine ganz besondere Zeit

Bruno Kneppe erinnert sich an seine Schulzeit während des Krieges, veröffentlicht am 22.05.2020

Vor 82 Jahren, zu Ostern 1938, wurde der Jahrgang 1931/32 eingeschult.
Für uns war das die Rosterstraßenschule, heute Diesterwegschule. Wegen der großen Anzahl der Schüler wurden zwei Klassen gebildet. Die eine Klasse bestand überwiegend aus Kindern aus der Winchenbach. Manche Gleichaltrigen kamen aber auch in die Häuslingschule und die Schüler aus der Hammerhütte waren auch noch irgendwie dazwischen.

Es war ein politisch aufregendes Jahr. Die Synagogen wurden angezündet, alle Jugendgruppen wurden verboten, zum Beispiel der CVJM, die katholische Jugend, die Pfadfinder. Ebenso erging es vielen Vereinen, wie den Schützen- und Arbeitervereinen. Es gab keine Gewerkschaften und Innungen mehr, und es gab nur noch eine Partei: die NSDAP.

Von Zwiebelsaft und Stockschlägen

Am 1.September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Viele Lehrer wurden zur Wehrmacht eingezogen. Die Rosterstraßenschule behielt ihre Lehrerin Frau Saubert. Die Winchenbachklasse wurde zur „Durchgangsklasse“, sie wurde zu jeder Schulstunde von einem anderen Lehrer unterrichtet.

Im NS-Regime wurden wir auch im Sinn der NSDAP unterrichtet. Wir mussten manches mitmachen, was vielen Eltern gegen den Strich ging. Einen Gruß wie „guten Morgen“ oder „auf Wiedersehen“ gab es nicht mehr beziehungsweise war verboten. Stattdessen hieß es nur noch „Heil Hitler“, dies wurde sehr streng gehalten. Zu Hitlers Geburtstag mussten wir alle in Jugend-Uniform antreten, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel Lied („die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“) mit allen Strophen singen. Zum Hitlergruß wurde dabei der rechte Arm ausgestreckt. Oh, wie lahm wurde da unser Arm! Ließ man ihn aber mal kurz sinken, gab es etwas mit dem Stock drauf.

Es war immer derselbe Lehrer, der mit dem Stock durch die Reihen ging. Unter uns wurde gemunkelt, er tat dies, damit ihm nicht selbst der Arm von der Hakenkreuzfahne lahm wurde. Dieser Lehrer war es auch, der bei der Pausenaufsicht mit Wollust mit der Gerte den Kindern um die Beine schlug. Das ging so lange, bis eine beherzte Mutter ihrem Sohnemann mit einer halbierten Zwiebel die malträtierten Beine einrieb und ihn so dem Rektor vorstellte. Das hat zwar schlimmer gebrannt als vorher die Schläge, aber wir hatten ab dann Ruhe davor.
Eines Morgens, als wir mit drei Schülern etwas spät dran waren, durchs Tor liefen und der Lehrerin schnell „guten Morgen“ sagten, wurden wir zurückgeschickt mit den Worten: „Wie heißt der deutsche Gruß?
Eher durften wir nicht in die Klasse gehen.

I-Männchen mit Schiefertafel

Die Juden durften nur noch mit dem gelben Davidstern mit der Aufschrift „Jude“, gut sichtbar auf der Kleidung angebracht, ihre Wohnung verlassen.

Als I-Männchen kritzelten wir mit einem Schiefergriffel die Sütterlinschrift auf die Schiefertafel, Tafellappen und Schwämmchen baumelten aus jedem Schulranzen. Dann, etwas später, lernten wir die lateinische Schrift.
Damit die deutsche Schrift nicht verloren ging, wurde einige Jahre später nochmals ein Jahr lang Sütterlinschrift gelehrt. Was hatten wir dann wieder zu kämpfen mit dem langen S und dem runden S! Beim großen S gab es trotz der anderen Schreibweise kaum Schwierigkeiten. Für die Schönschrift und Rechtschreibung war das jedoch wenig nützlich.

Als 1942 viele Schüler unserer Klasse zur Oberschule gingen, wurden die beiden Klassen zusammengelegt. Mit der kriegsbedingten Übergröße musste der Lehrer fertig werden. Vor allem die Durchgangsklasse war ziemlich verwildert. Daher erhielten wir den in der ganzen Schule strengsten und mit dem Stock am besten vertrauten Lehrer: Herrn Fritz Schöning .
Schon kurze Zeit später merkten wir, dass es mit dem Stock so eine Sache war. Der Stock, also unser Fritz, war gerecht. Wer etwas ausgefressen hatte, bekam ihn zu spüren. Und weil Herr Schöning einer Sache immer erst auf den Grund ging, nahmen wir als Betroffene (immer nur die Jungen) die Prügel ohne Abstriche an seiner Person in Kauf. Manchmal auch für einen anderen, denn gepetzt wurde nicht, das war Ehrensache!

Altmetall und Kartoffelkäfer sammeln

1943. Die bisherigen Luftschutzübungen nach der Schulstunde wurden ernst.
Außer Wissen mussten wir in der Schule noch so manches sammeln: Altmetalle, Kartoffelkäfer suchen, Heilkräuter sammeln, Flaschen und bergeweise Altpapier – alles für den Endsieg. Dabei kamen die Alliierten immer näher an Deutschlands Grenzen heran. Täglich hieß es im Frontbericht: Zahlreiche Truppen wurden bei … zurückgeschlagen – dass es sich dabei um die eigenen Truppen handeln könnte, durfte man nicht einmal denken! Wegen des Straftatbestands der „Wehrkraftzersetzung“ war vieles lebensgefährlich!

Die Unterbrechungen des Unterrichts durch Fliegeralarm waren für uns Schüler zunächst willkommen. Mussten wir doch sauber antreten zum Eingang des Luftschutzstollens in der Rosterstraße (welcher unter der Schule verlief) und in den Stollen einziehen. Zu unserem Glück (aus damaliger Sicht unser Pech) ging unser Lehrer Schöning im Bunker durch die einzelnen Banknischen und übte mit uns Kopfrechnen, vor allem das große Einmaleins. Von anderen Lehrern haben wir das nicht bemerkt.
Doch auch der Bunker wurde lästig. Schon um 9.00 Uhr ging die Sirene: Fliegeralarm! Und wenn es gut ging, konnten wir nach der Entwarnung um 15.00 Uhr den Bunker verlassen und mit knurrendem Magen nach Hause gehen.

Strickliesel und Stahlhelm

Eine beliebte Beschäftigung im Bunker war die Strickliesel. Jungen und Mädchen strickten aus bunten Wollresten lange Stränge, die man dann als Topflappen, Untersetzer und alles Mögliche zusammennähen konnte, oder einfach wieder aufziehen und neu beginnen.

Immer wieder Luftschutzübungen. Für den Luftschutz gab es Stahlhelme aus der Beute vom Sowjetheer. Die Helme waren bei den Kriegsspielen der Kinder sehr begehrt, was ich so nicht verstehen konnte.

Und dann kam der 16. Dezember 1944.
Hitler sagte 1933 vor seiner Machtergreifung: „Gebt mir 12 Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!“. Das war ihm gelungen. Deutschland lag in Trümmern, Siegen nach dem schweren Angriff am 16. Dezember in Schutt und Asche. Die Schulen blieben geschlossen, sie waren weitgehend zerstört oder stark beschädigt. Ein normales Leben war nicht mehr möglich. Kein Strom, Gas und Wasser, sogar die Kanalisation war an vielen Stellen zerstört.

Luftschutzübungen konnten nun viel realistischer gestaltet werden. Wir Jungen mussten dazu im Häusling Stabbrandbomben sammeln, was manchmal auch gefährlich sein konnte.
Die Luftschutzleiter kontrollierten immer, ob an der Bombe ein umlaufender roter oder grüner Streifen war. Dann handelte es sich um eine Brandbome mit Sprengsatz und durfte nicht gezündet werden.

Schokolade statt Angst

Nach dem nächsten Großangriff am 2. Februar 1945 lebten wir nur noch im Bunker. Dort wurde sitzend geschlafen. Unter Lebensgefahr gingen die Frauen zum Kochen nach Hause und brachte das Essen dann in den Bunker oder Stollen.
Manche Familien verlebten ihr Dasein ganz im Wald in einer selbstgebauten Schutzhütte, um den Bomben zu entgehen.
Im weiteren Frühjahr löste der Artilleriebeschuss die Bombardierungen ab. Wie froh waren wir, als die Front endlich über uns hinweg gegangen war! Was hatte die Propaganda uns Angst gemacht vor der Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Neger! Dabei waren es doch vor allem die schwarzen Soldaten, welche oft im Vorbeifahren eine Tafel Schokolade in den Kinderwagen warfen.
Die Wälder lagen voll von Waffen und Munition. Für uns Jungen – es war keine Schule – ein gefährliches Betätigungsfeld. Am 8. Mai dann die endgültige Befreiung von den Nazis und Kriegsende. Welch ein Segen!

Quäkerspeise und Lebertran

Im Frühjahr 1946 begann für uns wieder die Schule.
In der Hammerhütter Schule hatte man einige Klassenräume notdürftig wieder hergerichtet. Aus der Klasse unten rechts konnte man durchs Dach den blauen Himmel sehen. Ein ordentlicher Schulbetrieb war aber noch nicht möglich. Die bisherigen Schulbücher waren verboten, und neue gab es noch nicht. Außerdem fehlten Schulhefte, die Schularbeiten sollten wir auf leere Zementtüten schreiben (wenn wir welche finden würden). Zum Lesen sollten wir jede Zeitung mitbringen.
Es war aber Glücksache, überhaupt eine Zeitung zu bekommen. Wenn der Lehrer sagte: „Lies du weiter“ kam prompt „Herr Lehrer, ich hab eine andere Zeitung“. Täglich sollten wir Briketts zum Heizen mitbringen.

Was uns die Schule im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft machte, war die Schulspeisung. Diese wurde möglich durch die Quäker, eine religiöse Gemeinschaft in Amerika, daher auch Quäkerspeise genannt. Ausgehungert, wie wir alle waren, war es für uns ein notwendiger Sport, uns mit viel List eine weitere Portion zu ergattern.

Das war dann auch Grund für viele erheiternde Gespräche bei unseren späteren Klassentreffen. Die Mädchen hatten ja den gleichen Hunger wie die Jungen, man hielt uns aber wohl für leidensfähiger. Darum kamen bei der Verteilung der Quäkerspeise die Jungen immer zuerst dran. Man dachte auch an unsere Gesundheit. Einmal gab es für kurze Zeit täglich einen Esslöffel Lebertran. Der Löffel ging von Mund zu Mund durch die ganze Klasse. Das war weiterhin nicht schlimm, denn wir hatten alle die gleiche Krankheit: Hunger – aber nicht auf Lebertran.

Die Schulentlassung

Wer schon eine Lehrstelle hatte, konnte zu Ostern 1946 aus der Schule entlassen werden, alle anderen dann zu Ostern 1947.
Für den langen Ausfall mussten wir ein 9. Schuljahr mitmachen. Zu unserer Schulzeit gab es keine Klassenfahrten, nicht einmal eine Abschlussfeier. Gelernt wurde bis zur letzten Stunde, wir hatten so viel nachzuholen. Es gab aber nach der Schulentlassung vieles, was uns verband. Die Bunkerzeit, die Hungerjahre und diejenigen, die jetzt noch eine andere politische Einstellung hatten – es war vieles anders geworden.

22. Mai 2020

Impressionen

So – oder so ähnlich – sahen die Schulen in den 1930er Jahren aus. Mehrere Jahrgänge saßen gemeinsam im Klassenzimmer, Stock und Gerte gehörten zum Werkzeug der Lehrer.
Bis 1941 schrieben die Schülerinnen und Schüler die Sütterlinschrift auf ihre Schiefertafeln, später erlernten sie die Deutsche Normalschrift. Hefte gab es erst nach dem Krieg.
Bilder: Pixabay.com

Infos

Aus der Unser Siegen-Redaktion

So wie Bruno Kneppe lernten Tausende Schülerinnen und Schüler in den 1930er und 1940er Jahren sowohl die sogenannte Deutsche Schrift als auch die Sütterlinschrift.

Von Beginn der Neuzeit bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts wurde in den Schulen die Deutsche Kurrentschrift – auch deutsche Schreibschrift genannt – gelehrt und im gesamten deutschen Sprachraum verwendet.

1911 gab das Preußische Kultur- und Schulministerium eine neue Ausgangsschrift für Schreibanfänger in Auftrag, die von Ludwig Sütterlin entwickelt wurde. Die neue Sütterlinschrift war weniger spitz und dadurch leichter zu erlernen, zumal auch die in früheren Zeiten üblichen Federn und Federkiele nicht mehr verwendet wurden.
1915 wurde die Sütterlinschrift in Preußen eingeführt, 1935 in abgewandelter Form als deutsche Volksschrift auch Teil des offiziellen Lehrplans.

1941 wurde sie jedoch von den Nationalsozialisten wieder abgeschafft und die Schüler mussten fortan die rundere lateinische Schrift, genannt Deutsche Normalschrift, erlernen.
Im weiteren Verlauf änderten sich die zu lernenden Schriften immer wieder, aktuell gibt es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Regelungen und damit auch verschiedene Handschriftarten.

Informationen:
Wikipedia, Schlagworte: Sütterlinschrift, Deutsche Kurrentschrift, Lateinische Schreibschrift, Schulausgangsschrift, Antigua-Fraktur-Streit, Deutsche Schrift

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Autor: Bruno Kneppe

Bruno Kneppe wurde 1931 in Siegen am Rosterberg geboren, 1938 zog die Familie in die Winchenbach (Albert-Richartz-Str.). Von dort aus ging er bis Kriegsende in die Diesterwegschule, anschließend bis zur Schulentlassung noch in die Hammerhütter Schule.
1946 trat er in die Lehre ein, machte 1949 die Kaufmannsgehilfenprüfung vor der Industrie- und Handelskammer in Siegen und war anschließend in einigen Firmen im Außendienst tätig. Im Jahr 1962 übernahm er die Werksvertretung der Firma Klingspor GmbH – bis zur Rente 1993. 1958 heiratete er und bekam zwei Kinder, die heute im Münsterland zu Hause sind.

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3 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Hinweis, Frau Fries!
    Wir werden die Passage entsprechend anpassen.

    Viele Grüße
    Ihr Unser Siegen-Team

  2. Interessanter Bericht. Ich wurde 1959 in Niederschelderhütte eingeschult und lernte Druckschrift. Ein Jahr später zogen wir nach Gosenbach um und ich kam dort in die 2. Klasse, war der 64. (!) Schüler in der Klasse. Diese hatten im 1. Schuljahr Schreibschrift gelernt (war ja Nordrhein-Westfalen und nicht Rheinland-Pfalz). Die musste ich mir selber beibringen. Im 3. oder 4. Schuljahr lernten wir noch Sütterlin schreiben, hatten dazu 2 (!) Stunden pro Woche Unterricht.

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