Im Bubble-Gum-Fieber

Eine persönliche Reise zu den Zentren frühen Konsums

Ein Beitrag von Michael Meinhard – veröffentlicht am 24. April 2020

Die Kaugummiautomaten meiner Kindheit in der Dreisbach-Siedlung gibt es schon lange nicht mehr. Wenn ich mich richtig erinnere, hing einer an der Hauswand des nächsten „Tante Emma-Ladens“, ein anderer in der Nähe der Bushaltestelle, an der wir allmorgendlich auf die Fahrt zur Grundschule Fischbacherberg warten mussten. Abmontiert waren sie schon vor über 10 Jahren, als ich mit der Suche nach den Groschengräbern unserer Kindheit begann. So hing der erste von mir fotografierte Kaugummiautomat gar nicht einmal in Siegen, sondern in einem kleinen Dorf in der Eifel.

Aus den anfangs eher zufälligen Funden wurde nach und nach ein langjähriges Fotoprojekt mit Ausstellungen über Kaugummiautomaten, einem eigenen Instagram-Account und schließlich dem eigenen Buch „Vernachlässigte Zentren frühen Konsums“, aus dem ich folgend hier und da zitieren werde. Denn viele Beobachtungen und Erkenntnisse gelten gleichermaßen für die Kaugummiautomaten in Siegen wie anderswo. Doch der Reihe nach: Wie fing das eigentlich überhaupt an?

Strümpfe und Würste

„Die Geschichte begann nach dem 2. Weltkrieg, als das Kaugummi aus Amerika herüberschwappte und Wirtschaftswunderdeutschland nach und nach wieder zu Wohlstand und Kauflust fand. Dem kamen Automaten für alle Alltagsfragen und Bedürfnisse entgegen: Lebensmittel, Strümpfe, Würste – und für die Kleinsten eben Kaugummis. Rund um die Uhr erreichbar, 24/7-Shopping, lange vor Erfindung des Internets, mehr als ein halbes Jahrhundert vor Webshops und Express-Lieferung. Wann der anhaltende Niedergang begann? Schwer zu sagen. Vielleicht nach dem Ausklingen des Babybooms: weniger Kinder in den Straßen der 80er und 90er des letzten Jahrhunderts? Die Kinderzimmer füllten sich zudem mit allerlei Plaisir, was eine Beschäftigung außerhalb der eigenen vier Wände nicht mehr attraktiv machte. Die Straßen wurden nach und nach kinderärmer, die „Drehzahlen“ an den Automaten sanken in Folge. Trotzdem: Während fast alle anderen Warenautomaten aus dem Straßenbild verschwanden, haben sich viele Kaugummiautomaten mit Langmut halten können.“

(Aus „Vernachlässigte Zentren frühen Konsums“, 2019)

Sind die Kaugummiautomaten also eine Seltenheit?
„Gibt es die noch?“ und „Habe ich ewig nicht gesehen“ sind jedenfalls durchaus übliche Reaktionen auf meine Bilder. In der Tat sind die Blechkästen an manchen Orten fast komplett verschwunden. Aber es ist auch ein Beleg für unsere selektive Wahrnehmung, wenn uns als Erwachsene die andernorts noch allgegenwärtigen Kaugummiautomaten nicht mehr auffallen. Und wie sieht es hier in der Region aus?

Rost, Aufkleber und Kritzeleien

Für das Siegerland kann ich um die 100 Standorte belegen, in Siegen und seine Ortsteile sind es rund 60 Kaugummiautomaten. Und erhebe dabei keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit.

Dabei findet man auch in Siegen die ganze Vielfalt, die man auch anderswo findet: Oft hängen die Kaugummiautomaten an Bushaltestellen, mal neben einem Imbiss, sie sind von Rost, Aufklebern und Kritzeleien gezeichnet. Vielerorts hängen sie für die Kleinen gut zugänglich in Kniehöhe, dann wieder – weniger kindgerecht – z.B. neben Zigarettenautomaten. Den meisten sieht man an, dass sie seit Jahrzehnten die Stellung halten, während rundherum die Läden wechseln, die Häuser renoviert werden und die Straßenführung geändert wurde.

Apropos Jahrzehnte: Die Erinnerung an die Kaugummiautomaten der Kindheit ist über Generationen ähnlich: 

„Denn fast jeder im Alter zwischen 20 und 60 hat mit seinen ersten eigenen Groschen oder Cent vor einem dieser Blechkästen gestanden, die Münzen umständlich in den querliegenden Schlitz geklemmt, an dem schwarzen Plastikknopf gedreht – selten reichte eine Bewegung alleine – und auf das Kaugummi in der Lieblingsfarbe, den Plastikring oder den Flummi gehofft. Es war damit oft das erste selbstverwaltete Konsumerlebnis – und das für mehrere Generationen.“

(Aus „Vernachlässigte Zentren frühen Konsums“, 2019)

Und auch die Kindergarten- und Schulkinder von heute lassen noch die 20- und 50 Cent-Stücke in dem Schlitz verschwinden, um sich einen „Center Shock“, „Unicorn Balls“ oder einen „Popping Eye Yoyo“ zu ziehen. Es bleibt also zu hoffen, dass uns die Kaugummiautomaten noch eine Weile erhalten bleiben.

24. April 2020

Impressionen

Kaugummiautomaten sind aus unserer Kindheit nicht wegzudenken. Sie hingen an Hauswänden, Bushaltestellen, neben Imbissen, Tante-Emma-Läden und Bäckereien. Sie sind auch heute noch da – diese fand Michael Meinhard in den Siegener Ortsteilen Eiserfeld, Weidenau und Geisweid.

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Michael Meinhard.

Infos

Ist es Zufall, dass sich ausgerechnet ein Siegerländer diesem Thema mit der Kamera annähert?
Vielleicht nicht, denn seit meiner frühen Beschäftigung mit der Fotografie in den 80er Jahren (inklusive eines Praktikums im traditionsreichen Fotostudio Fuhrmann in der Kampenstraße) war mir natürlich der in Siegen geborene Bernd Becher ein Begriff, der zusammen mit seiner Frau Hilla aus dokumentarischen Fotoserien eine neue Schule der Fotokunst entwickelte. So kann man das Projekt gerne auch als Hommage an dieses Künstlerpaar verstehen und diese fotografische Sammlung von Kaugummiautomaten in der Tradition der Bilder Siegerländer Fachwerkhäuser sehen, wie sie die Bechers vor knapp 60 Jahren dokumentiert haben.  

Lageplan

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Autor: Dr. Michael Meinhard

Dr. Michael Meinhard, 1966 in Siegen geboren, ist Biologe, Fotograf und Mitinhaber eines Büros für Visuelle Kommunikation in Bonn. Seit 2008 fotografiert er Kaugummiautomaten im gesamten deutschsprachigen Raum und hat 2019 eine Zwischenbilanz seiner Suche im Fotoband „Vernachlässigte Zentren frühen Konsums“ veröffentlicht. Informationen zu seinem Projekt finden sich auf seiner Website www.kaugummiautomatenbuch.de

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