Ernst Göckus erinnert sich an das alte Siegener Hallenbad auf der Sieghütte – und Klaus Krückemeyer vertont das Erlebnis – veröffentlicht am 17. April 2020
„Und samstags in die Zinkbadewanne“, so hieß es immer auf dem großväterlichen Bauernhof in Afholderbach, wo wir nach einem verheerenden Luftangriff eine Bleibe gefunden hatten. Es roch nach Seife, Qualm und verbranntem Holz, und Dampf aus Waschkessel und Badewanne hüllte die Decke der Waschküche ein.
„Do dich schwinn a, datt de dich nett verkällst“, rief mir meine Großmutter mahnend zu, nachdem ich widerwillig dem wohltuenden Bad entstiegen war. Meine Eltern wussten, wie sehr ich das Badefass liebte und mich schon immer auf die Wochenenden freute.
Nun war es April 1950, kurz nach dem ersten Schultag, als mein Vater mit einer Überraschung kam. „Morgen gehen wir in ein viel größeres Badefass, in die Badeanstalt in Siegen“. Ich hatte keine Ahnung, was man unter einer Badeanstalt verstand, war ich doch bis dahin nicht einmal über die Grenzen des Siegerlandes hinausgekommen. Bilder von einem Hallenbad hatte ich auch nie gesehen. Fernsehen gab es sowieso noch nicht.
Nun standen wir vor dem großen Gebäude zwischen Sandstraße und Heeserstraße, direkt an der Sieg gelegen. Eine Fußgängerbrücke führte zur Heeserstraße, vorbei an einem Geschäft für Klingen und Handfeuerwaffen, heute in der Siegener Oberstadt ansässig.
„Es war in den 30er Jahren eines der modernsten Bäder Westdeutschlands“, erklärte mein Vater, Jahrgang 1901, mit gewissem Stolz. Er hatte dort sein Freischwimmerzeugnis erworben. Ein kleiner Seitenweg führte zu dem riesigen Gebäude, vor welchem zahlreiche Fahrräder auf Ständern geparkt waren. Die freundliche Dame an der Kasse wünschte uns viel Spaß. Der Eintritt kostete 25 Pfennig für Kinder und 50 Pfennig für Erwachsene. Zum Vergleich: Ein tüchtiger Facharbeiter verdiente damals maximal 1,80 DM pro Stunde.
Die Luft war feucht und es roch stark nach Desinfektionsmitteln.
“Wir desinfizieren unsere Anlagen mit Lysolin“ war in großen Buchstaben zu lesen.
Von innen hörten wir Jungengeschrei, ab und zu Platscher und gelegentlich eine laute Stimme durch ein Sprachrohr, welche jedem Kapitän bei Nebel zur Ehre gereicht hätte, um vor drohenden Gefahren zu warnen. Die laute Stimme gehörte dem Bademeister, der, wie die Dame an der Kasse ganz in Weiß gekleidet, gelegentlich zur Ordnung rufen musste.
Er saß an einem Tisch genau zwischen Ein- und Dreimeterbrett. Letzteres durfte nur mit seiner Erlaubnis betreten werden. Die großen Fenster der Schwimmhalle mit ihren Rundbögen erinnerten an einen Festsaal in einem Schloss des 19. Jahrhunderts. Später lernte ich, dass es sich um Jugendstil handelte. Beeindruckend war die mehr als fünf Meter hohe Galerie, wo sich Umkleideräume befanden. Es war verboten, von der Galerie ins Wasser zu springen, nach Ende der offiziellen Badezeit wurde dieses Verbot allerdings nicht immer befolgt.
An der Gegenseite der Halle ergossen sich zahlreiche Brausen, der Dampf erinnerte mich an Omas Waschküche, nur dass das Wasser hier fortwährend lief. Maximale Brausezeit, so mahnte ein Schild, lag bei 3 Minuten. Was mich am meisten faszinierte, war das türkisfarbene Wasser des genau 16 2/3 Meter langen Schwimmbeckens (drei Bahnen entsprachen damit 50 Metern). Ich konnte meinen ersten Sprung ins Wasser gar nicht erwarten, jedoch war zunächst Körperreinigung angesagt. Es war ein wunderschönes Gefühl, als das warme Wasser prickelnd den Rücken hinablief, wiederum weit schöner als in der Zinkbadewanne. Noch wichtig zu sagen: Es war Badezeit ausschließlich für männliche Badegäste.
Dann war zunächst Abkühlen angesagt, eine kalte Brause, auch Eisbrause genannt, diente hierzu am Eingang zum Nichtschwimmerbecken. Beim ersten Mal war dies schon etwas gewöhnungsbedürftig. Viele Jungen tummelten sich mit mir in diesem vom Schwimmerbecken abgetrennten Areal, und bald wurden erste Bekanntschaften geschlossen. Wie staunten wir über die Kopfsprünge vom Einmeterbrett. Das Becken war in diesem Bereich knapp drei Meter tief.
„Papa, spring doch auch einmal“, rief ich hoffnungsvoll meinem Vater zu. Nach kurzem Anlauf verschwand er unter dem Wasser. Um Himmels willen, wo bleibt er nur, dachte ich, ängstlich am Beckenrand stehend. Da klopfte mir einer auf die Schulter. Es war mein Vater, er hatte das ganze Becken durchtaucht und stand nun lachend hinter mir. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Abends hatte ich viel zu erzählen, auch später in der Schule. „Ich war in der Badegestalt“, erklärte ich stolz, was ein Lachen bei älteren Schülern in der einklassigen Schule auslöste. „Du meinst sicher Badeanstalt“, erklärte unser Lehrer mit verständnisvollem Lächeln.
An Urlaubsfahrten war Anfang der fünfziger Jahre noch nicht zu denken, umso mehr freute ich mich auf die gelegentlichen Hallenbadbesuche. Von Afholderbach aus wirkte die Anfahrt schon wie eine kleine Reise. Mit dem Bus oder zu Fuß ging es ins fünf Kilometer entfernte Netphen, mit der Kleinbahn nach Weidenau, dann mit der Straßenbahn zur Haltestelle Kaisergarten. Der Fahrschein kostete einen Groschen weniger als zur Emilienstraße. Zwischen beiden Haltestellen lag die Badeanstalt. Viele bekannte Gesichter prägten sich mehr und mehr ein, und wir alle wollten irgendwann den Freischwimmer machen. Gespannt verfolgten wir gelegentlich Sprünge vom Dreimeterbrett. Uns Kindern stockte der Atem, wenn einem Sprungkünstler gar ein anderthalbfacher Salto oder ein atemberaubender Hechtsprung gegen das Brett gelang.
Mittlerweile setzte sich das sogenannte Familienbad mehr und mehr durch, gleichzeitig waren die ersten Bikinis zu bestaunen. Ich stand direkt neben dem Bademeister, als zwei junge Frauen für die damalige Zeit recht freizügig gekleidet dem Becken entstiegen.
„Herr Bademeister, wo kann ich solche Schwimmkissen kaufen?“, fragte ich ahnungslos den Gebieter über die Badeanstalt. Neben mir prustete ein Herr mittleren Alters vor Lachen und stürzte rücklings ins Wasser. Dankenswerterweise konnte er schwimmen. „Die Schwimmkissen kannst du nicht kaufen, aber du kannst bei uns einen Schwimmkursus machen“ – auf diese Weise rettet er souverän die Situation. Glücklicherweise hatten die jungen Damen meinen kindlichen Fauxpas nicht mitbekommen.
Inzwischen hatten wir ein eigenes Haus am Ziegenberg in Siegen bezogen, bis zur Badeanstalt waren es nur noch 20 Minuten flotter Fußweg. Der Schwimmkurs war nun ein wunderbares Erlebnis. Der Bademeister und einige DLRG-Mitglieder hatten großes Geschick, jedem von uns die Angst vor dem Wasser zu nehmen, uns zu ermutigen, auf jeden Einzelnen von uns gezielt einzugehen, aber auch manchmal ein paar mahnende Worte zu sprechen. Dank dieser überlegten Planung kamen wir immer besser mit dem Wasser zurecht, die Schwimmzüge wurden rhythmischer, der Atem passte sich mehr und mehr den Schwimmbewegungen an, und bald konnten wir immer längere Strecken im Schwimmerbecken zurücklegen.
Dann war es soweit – Sprung vom Einmeterbrett und 15 Minuten Dauerschwimmen. Stolz entstiegen mein Klassenkamerad und Freund Heiner und ich anschließend dem Becken.
„Wir hätten noch länger durchgehalten“, versicherten wir ahnungslos den DLRG-Helfern.
„Na dann geht mal auf das Dreimeterbrett“, hieß es.
Wir waren noch nie oben gewesen. Das Gefühl war wie beim Elfmeterschießen: Das Tor wird immer kleiner und der Torwart wächst zum immer breiter werdenden Zerberus mit ausladenden Armen. Hier war es ganz ähnlich, das Sprungbrett schien in die Höhe zu wachsen und das Becken wirkte immer enger, dann Schritt nach vorne und: Geschafft! Leichte Schmerzen am rechten Arm, weil ich diesen nicht vorschriftsmäßig angelegt hatte.
„Gleich noch mal“, ermutigte der Bademeister. In der Tat, die Beklemmung nahm mehr und mehr ab. „Geht einige Wochen regelmäßig schwimmen, dann könnt ihr auch den Fahrtenschwimmer machen“, erklärte er. Und: „Übt auch das Rückenschwimmen.“
In den nächsten Wochen suchten wir das Hallenbad häufiger auf, und unsere Eltern gaben uns bereitwillig das nötige Geld. Dann bestiegen wir nacheinander mit vielen Kameraden das Dreimeterbrett und hatten nunmehr 30 Minuten vor uns. Es war doch ein wenig anstrengend, besonders das Rückenschwimmen verlangte uns viel ab. Endlich hatten wir alle bestanden und nahmen erschöpft, aber glücklich und stolz unsere Urkunden in Empfang, welche uns berechtigten, die entsprechenden Stoffabzeichen an der Badehose zu tragen. Zur Belohnung durfte ich mir im Beisein meines Vaters in besagtem Waffengeschäft ein Fahrtenmesser aussuchen, welches ich mit Stolz an der linken Seite meiner Lederhose trug. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass sich zahlreiche Kameradschaften unter uns Schwimmern entwickelt hatten.
Einige Jahre später besuchte ich gemeinsam mit einem Schulfreund zum ersten Mal den Saunabereich. Wir hatten viel davon gehört und waren neugierig. Natürlich war die Sauna strikt nach Geschlechtern getrennt.
„Ihr dürft die Badehose ruhig ausziehen“, ermutigte der Mitarbeiter der Badeanstalt, als wir etwas zögernd den abgetrennten Bereich betraten. Wir waren die einzigen Jugendlichen, die meisten Saunagäste waren Herren mittleren oder fortgeschrittenen Alters. Der Eintritt kostete 1 DM.
„Schön, Sie hier zu sehen!“, rief einer der Herren plötzlich erstaunt aus. Ich musste zweimal hinschauen, bevor ich den freundlichen Menschen erkannte. Es war ein Vorstandsmitglied eines Weidenauer Stenographenvereins, bei welchem ich in meiner Freizeit einen Lehrgang in Deutscher Einheitskurzschrift begonnen hatte. In der Tat, ich kannte ihn sonst nur stets korrekt gekleidet mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte.
Das war wirklich eine echte Überraschung.
Ende 1956 wurde das Weidenauer Hallenbad eröffnet, mit 25 Metern Beckenlänge, großzügigen Verweilplätzen und sogar einer Milchbar. Verständlicherweise zog es uns dann doch mehr und mehr dorthin. Hinzu kam wöchentlich eine Stunde Schwimmunterricht im Rahmen des Lernangebotes unserer Weidenauer Schule. Nun wurden wir systematisch auf den Jugendschwimmschein vorbereitet, nämlich mit Streckentauchen, Transportschwimmen, Mutsprung, Tieftauchen, Schnellschwimmen und einem theoretischen Prüfungsteil. Das Ganze wurde dann mit Frei- und Fahrtenschwimmer zu einem Jugendschwimmpass zusammengefasst und auch auf dem Schulzeugnis vermerkt. Gute zehn Jahre danach waren im Rahmen beruflicher Ausbildung Grund- und Leistungsschein der DLRG angesagt…
Jedoch: Die Grundlagen für diese späteren Erfolge wurden durch Frei- und Fahrtenschwimmer-Ausbildung im altehrwürdigen Siegener Hallenbad gelegt, welches im Dezember 1966 seine Pforten schloss. Dem damaligen Schwimmpersonal gilt ein besonderes Dankeschön.
Eingesprochen von Klaus Krückemeyer.
Der gebürtige Siegener ist Schauspieler, Sprecher und Autor. Mit seinem RadioLiveTheater bringt er Hörspiele ins Radio und auf die Bühne. www.RadioLiveTheater.de
Vom Unser-Siegen-Team
Am 22. August 1902 wurde auf der Sieghütte in der damaligen Sandstraße 57 Siegens erste Badeanstalt eröffnet.
Der Jugendstil-Bau mit großen Fensterbögen und einer umlaufenden Empore war ein architektonisches Schmuckstück und wurde jedes Jahr von Tausenden Siegenern besucht. Unzählige Schülerinnen und Schüler lernten hier schwimmen, Männer und Frauen schwammen anfangs getrennt, später zusammen.
In den letzten Kriegs- und den Nachkriegsjahren des ersten Weltkrieges musste das Bad wegen Brennstoffmangels zeitweise geschlossen werden, wurde aber bald darauf wieder geöffnet. Das Angebot war groß; eine Anzeige aus dem Jahr 1925 bewarb Wannenbäder, Schwimmbäder, Brausebäder, römisch-irische Schwitzbäder, Dampfbäder, Kastenschwitzbäder, elektrische Lichtbäder, Sauerstoffbäder, Kohlensäurebäder, Salzbäder, Schwefelbäder und Fichtennadelbäder.
Im zweiten Weltkrieg wurde die Badeanstalt zerstört, 1947 der Badebetrieb aber wieder aufgenommen. Das Stadtbad im heutigen Dilnhenrichweg war viele Jahre Siegens einziges Hallenbad, verlor aber in den 1960ern mit den Neubauten der Hallenbäder am Weidenauer Bismarckplatz und am Löhrtor an Bedeutung. Am 24. Dezember 1966 schloss es für immer seine Pforten.
In der Siegener Zeitung berichtete ein Bürger im Februar 1967 von Verwüstungen durch „Rowdys“ und die Übernachtungen von „Tippelbrüdern und Stadtstreichern“.
Später befand sich die Reifenhandlung Weiß in dem Gebäude, am Ende ein Fitnessstudio.
Das Gebäude wurde im Herbst 2019 abgerissen, an seiner Stelle soll ein Alten- und Pflegeheim entstehen.
Fotos der alten Badeanstalt, einst eines der modernsten westdeutschen Bäder, können im Siegener Stadtarchiv angeschaut werden.
Autor: Ernst Göckus
Oberstudiendirektor Ernst Göckus leitete bis zu seiner Pensionierung das Weiterbildungskolleg der Stadt Siegen und ist Vorstandsmitglied und Pressesprecher des Seniorenbeirats der Stadt Siegen.
In seiner Freizeit hält er sich mit Langstreckenlauf fit und erholt sich mit klassischem Jazz und Lesen. Außerdem ist er Mitglied im Ältestenrat der Sportfreunde Siegen.
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