Und plötzlich war das Zuhause weg

Steffen Fuchs berichtet über den Angriff 1944 und seine Folgen

Ich wurde 1937 als zweiter von drei Söhnen des Ehepaars Hilde und Walter Fuchs im Haus Markt 31 geboren. Damals war meine Familie bereits in der zweiten Generation mit einem Geschäft in der Siegener Oberstadt ansässig. Mein Großvater Gustav war Goldschmied und betrieb einen Juwelier- und Graveurladen an der Marburger Straße 15. Seine Söhne Paul und Walter führten das Geschäft fort und qualifizierten sich Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als Optiker, ein Beruf, der damals noch selten war. Dem Juwelierladen wurde zunächst am alten Standort eine optische Abteilung angefügt. 1930 gründete mein Onkel Paul am Markt 31 das erste Optiker-Fachgeschäft im Siegerland. 1933 trat mein Vater Walter in die Firma ein, die den Namen Optiker-Fuchs tragen sollte.

Das Haus am Markt 31 war ein altes Fachwerkhaus. Teilweise verschiefert, passte es in das Gesamtbild der Siegener Oberstadt. Wie viele andere Häuser in der Nachbarschaft war es schmal gebaut und maß nur 5 m in der Breite. Im Erdgeschoss befand sich der Laden, im 1. Obergeschoss das Wohnzimmer. Es reichte über die gesamte Breite und war mit einem Erker versehen, von dem aus man den Markt gut überblicken konnte. Von hier aus haben wir Kinder zum Beispiel die Aufmärsche beobachtet, die vor dem Rathaus stattfanden. Weitere Wohnräume befanden sich im 2. und 3. Obergeschoss. Wir hatten ein Badezimmer, was für die damalige Zeit ein Luxus war. Es befand sich ungewöhnlicherweise im Dachgeschoss.

1943 wurde ich eingeschult. Es waren unruhige Kriegszeiten. So konnte der Unterricht wegen Fliegeralarms nicht regelmäßig durchgeführt werden.

Der Großangriff am 16. Dezember 1944 kam nach meiner Erinnerung – ich war 7 Jahre alt – in zwei Etappen. Beim ersten Alarm sind wir Jungs mit meiner Mutter in den Keller des Gebäudes Jaeger in der Marburger Straße geflohen. Der Keller war als Schutzraum für die Nachbarn ausgebaut. Die Menschen waren zusammengepfercht. Das Gemäuer zitterte. Danach holten die Bomber zu einer zweiten Angriffsphase aus. In dieser Zeit sind wir raus aus dem Keller und weiter zum Bunker in der Burgstraße. Es folgte die zweite Bombardierungswelle. Sie traf unser Haus am Markt, das Haus Jaeger, den Kaufhof und alle anderen Gebäude der Oberstadt. Wie wir später sahen, standen nur noch Ruinen.

Vorerst jedoch blieben wir im Bunker. Die Kinder durften nicht raus. Nur den Erwachsenen war das für kurze Momente erlaubt. Ich glaube, wir haben ein bis zwei Wochen im Bunker Burgstraße zugebracht. Unser Zuhause gab es nicht mehr. Da war es ein Glück, dass uns unsere Hausangestellte Lucie Weiß, genannt Lulu, ein Angebot machte. Sie kam aus Eiserfeld. In ihrem Haus in der Grabettstraße machte sie das Untergeschoss für uns frei. Dort zog meine Mutter mit uns drei Brüdern ein. Mein Vater war ja nicht da. Er war im Krieg, irgendwo weit weg in Ungarn. Ich weiß noch, dass wir Jungs Rücksäcke trugen, in denen sich das Notwendigste befand, als wir zu Fuß durch das zerstörte Siegen nach Eiserfeld liefen.

Ich war noch ein Kind. Aber ich hatte ein Gefühl dafür, dass wir in eine ungewisse Zukunft gingen. Angst war da aber nicht. Denn ich sah ja, dass alle das gleiche Schicksal hatten.

In Eiserfeld haben wir eine ganze Weile gelebt. Ich bin dort auch zur Schule gegangen. Gelernt habe ich in dieser Zeit vor allem, Platt zu schwätzen. Wir kamen ja aus der Stadt und sprachen ganz anders als die Eiserfelder.

Als mein Vater aus der Gefangenschaft kam, hat er das Optik-Geschäft wieder eröffnet und zwar in der Hammerstraße. Der Laden war sehr bescheiden, lediglich ausgestattet mit einigen Werkzeugen und Maschinen, die den Krieg überdauert hatten. Die Anfänge waren schwer. Mein Vater ist über Land gezogen, um Material zu beschaffen und Waren zu verkaufen. Oft war er in völlig überfüllten Zügen unterwegs. Gleich zu Beginn hatte sich mein Vater vorgenommen, das Haus am Markt 31 wieder aufzubauen. Das dauerte jedoch einige Jahre. Erst 1952 war der Neubau an alter Stelle fertig gestellt. Zwischenzeitlich hatten meine Eltern das Geschäft an die Kölner Straße 56 verlagert.

Ich war nun 15 Jahre alt und nach dem Besuch der Realschule in Kreuztal fiel es mir nicht schwer, eine Berufswahl zu treffen. Ich wollte Optiker werden, wie mein Vater. Mir gefiel daran, dass ich den Menschen mit dieser Arbeit ein Stück mehr Lebensqualität schenken konnte.

Meine Ausbildung machte ich in Iserlohn, wo ich in einem Lehrlingsheim wohnte. Die Berufsschule befand sich in Dortmund. Weitere berufliche Stationen absolvierte ich in Starnberg bei München, danach für 1 Jahr in Genf in der Schweiz, weiter in Mannheim und zum Schluss in Köln. Dort legte ich schließlich die Meisterprüfung zum staatlich geprüften Augenoptiker ab und trat 1964 in die Geschäftsführung des Familienbetriebs ein. Mein Bruder Hans-Wilhelm stieß 1966 zu meinem Vater und mir in die Geschäftsführung. Er hatte inzwischen sein Diplom als Fotograf gemacht.

Das Haus am Markt 31 hat seither mehrere Umbauten und Modernisierungen erfahren. Den größten Schritt unternahmen wir 1974. Damals stand das benachbarte Haus Markt 35 zum Verkauf. Das Ehepaar Fleischhauer, das dort eine Drogerie betrieb, hatte keinen Nachfolger. Mein Vater sah hier eine Chance, das Geschäft zu vergrößern. Er erwarb das Gebäude und die beiden Häuser wurden vereinigt.

Ich selbst war bis 2003 im Geschäft aktiv, bevor ich das Optik-Geschäft in die Hände meines Sohnes Heinjochen gegeben habe. Er führt „Brillen-Fuchs“ nun in vierter Generation fort und ist, wie ich, ein überzeugter Oberstädter.

18. Dezember 2020
Steffen Fuchs

Zeitzeuge: Steffen Fuchs

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Fotos aus dem Privatarchiv der Familie Fuchs.

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1 Kommentar

  1. danke, für diese Erinnerungen! ich bin 5 Jahre jünger als Steffen Fuchs, kam 1943 im Alter von 1 Jahr mit meinen Eltern von Düsseldorf aufs Rödgen, für mich heute, nachdem ich weiß, was in unmittelbarer Nähe unseres Wohnortes die Menschen in nahezu allen Orten an leidvollen Erfahrungen durchmachen mussten, ein Wunderort, ein Paradies! Mein Vater hatte das Glück, nicht eingezogen zu werden, obwohl er gerne seine Pilotenkarriere aus dem ersten Weltkrieg fortgesetzt hätte. Er war „kriegsuntauglich“. Er war also zu Hause. „Hast du kein Glück, kann es auch dein Glück sein.“ Meine ersten Erinnerungen stammen vom Frühjahr 1945, es sind auch meine einzigen Kriegserinnerungen: 2-3mal in den Bunker oder in den Stollen, und einmal eine Beobachtung von Tieffliegern über unser Haus von der Waschküche aus. Die hatten allerdings während meiner Abwesenheit Löcher in mein Paidibettchen geschossen. Worauf ich meine Mutter fragte: „Die Enländern haben mein Bett zerschosen. Dürfen die das?“ Ja, das ist wohl auch heute oft die entscheidende Frage: Wer gibt den Menschen die Legitimation ihre Nächsten zu töten? Dann stand eines abends Flammersbach in Flammen. Das nächste Bild meiner Erinnerung zeigt dann schon freundliche, schwarze GIs, die uns zulächeln und von ihren Trucks Kekse und Kaugummi verteilen. Hunger und Frost? Gehörte zum Leben. Angst kannte ich noch nicht… alles Gute!

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